Eine chaotische Melodie?

 

...und wenn die Lebensmelodie in einzelne, scheinbar zusammenhanglose Töne zerfällt.

Wenn die Melodie chaotisch zu werden scheint?

 

Vor kurzem wurde im Fernsehen der Film "Stiller Abschied" gezeigt. Er erzählt beeindruckend die Geschichte einer Unternehmerin (großartig gepielt von Christiane Hörbiger), die immer größere Probleme hat, mit den alltäglichen Dingen ihres Lebens klarzukommen, die Namen und Begriffe aus ihrem Gedächtnis verliert, die ängstlich und misstrauisch wird und sich immer mehr von ihrer Familie zurückzieht. Als schließlich die Diagnose "Alzheimer" gestellt ist, "verabschiedet" sie sich bei einer Geburtstagsfeier im Kreis ihrer Familie "zum ersten Mal".

"Zum ersten Mal", weil man mit dieser Krankheit ja "zweimal stirbt", weil vor dem physischen Tod die Person stirbt, die man bisher war.

Nach diesem Film gab es eine Gesprächsrunde zum Thema Alzheimer. Betroffene Angehörige, ein Arzt, der nach den Ursachen dieser Krankheit sucht und eine Medizinjournalistin sprachen über ihre Erfahrungen und Erkenntnisse, und dabei ist mir aufgefallen, wie wenig man doch wirklich sicher über die Ursachen weiß, dass die Diagnose wohl nicht eindeutig zu stellen ist und dass eine Therapie mit Medikamenten deshalb umstritten ist.

Wie bei vielen (den meisten?) Erkrankungen ist wohl eine Vielzahl von Komponenten daran beteiligt - ein Zusammenwirken von körperlichen und seelischen Veranlagungen und Belastungen, dem sozialen Umfeld, von belastenden Umweltbedingungen.....und last but not least die immense Reizüberflutung, der wir alle mehr oder weniger ausgesetzt sind, wenn wir uns nicht ganz bewusst davor schützen.

Mich würde interessieren, ob Mönche und Nonnen, die im Kloster die meiste Zeit ein strukturiertes, einfaches Leben führen und die ja oft auch sehr alt werden, prozentual genauso oft an Alzheimer erkranken wie andere Menschen??

In dem berührenden Buch von Arno Geiger "Der alte König in seinem Exil", in dem er die sich wandelnde Beziehung  zwischen sich und seinem an Alzheimer erkrankten Vater beschreibt, habe ich einen interessanten Gedanken gefunden:

"Alzheimer ist eine Krankheit, die, wie jeder bedeutende Gegenstand, auch Aussagen über anderes als nur über sich selbst macht. Menschliche Eigenschaften und gesellschaftliche Befindlichkeiten spiegeln sich in dieser Krankheit wie in einem Vergrößerungsglas. 

Für uns alle ist die Welt verwirrend, und wenn man es nüchtern betrachtet, besteht der Unterschied zwischen einem Gesunden und einem Kranken vor allem im Ausmaß der Fähigkeit, das Verwirrende an der Oberfläche zu kaschieren. Darunter tobt das Chaos. 

Auch für einen einigermaßen Gesunden ist die Ordnung im Kopf nur eine Fiktion des Verstandes. 

Uns Gesunden öffnet die Alzheimerkrankheit die Augen dafür, wie komplex die Fähigkeiten sind, die es braucht, um den Alltag zu meistern. Gleichzeitig ist Alzheimer ein Sinnbild für den Zustand unserer Gesellschaft. Der Überblick ist verloren gegangen, das verfügbare Wissen nicht mehr überschaubar, pausenlose Neuerungen erzeugen Orientierungsprobleme und Zukunftsängste. 

Von Alzheimer reden heißt, von der Krankheit des Jahrhunderts reden..."

 

Wenn die Krankheit einmal diagnostiziert ist und wenn der Mensch, so wie er nun ist, von seiner Umgebung akzeptiert wird und liebevoll behandelt wird (was oft erst nach einem langen schmerzhaften Weg der Unklarheit und Unsicherheit möglich ist), dann können sich neue Räume in den Beziehungen öffnen - Gefühle, die lange kontrolliert und unterdrückt waren, können sich zeigen und den Vater, die Mutter, den Partner noch einmal in einem ganz andern Licht sehen lassen.

Wesentliches kommt zum Vorschein.

Und das ist etwas, was uns doch in allen Lebensphasen und Beziehungen gut tut. 

 

 

 

(s.a. Lebens-Melodie S. 1)

 

 

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