Lebens-Melodie - Liebes-Melodie
"Wir sind auf der Erde um lieben zu lernen.
Die letzte Lebenszeit ist oft die entscheidende in diesem Reifeprozess."
Elisabeth Kübler-Ross
Wenn wir auf das Ende unseres Lebens schauen - oder gar schon schmerzlich damit konfrontiert werden - dann kommt das Wesen-tliche zum Vorschein.
In den vielen Jahren, in denen ich mich für die Hospiz-Idee engagiert habe, ist mir immer wieder bewusst geworden, wie sehr wir daran leiden, nicht genug lieben zu können, nicht genug geliebt zu werden - von anderen, von uns selbst.
Und gerade die Engagiertesten unter uns haben vor lauter Überbewertung der Nächstenliebe sich selbst vernachlässigt.
Hermann Hesse hat einmal geschrieben:
"Wenn man die Worte des Neuen Testamentes nicht als Weisungen versteht, sondern als Äußerungen eines ungewöhnlich tiefen Wissens um die Geheimnisse unserer Seele, dann ist das weiseste Wort, das je gesprochen wurde, der kurze Inbegriff aller Lebenskunst und Glückslehre, jenes Wort:
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.
Man kann den Nächsten weniger lieben als sich selbst.
Dann ist man ein Egoist und wird nie ein frohes Herz haben und die tiefsten Freuden sind einem verschlossen.
Oder man kann den Nächsten mehr lieben als sich selbst.
Dann ist man ein armer Teufel, voll Verlangen, alles zu lieben und doch voll Plagerei gegen sich selbst und lebt in einer Hölle, die man täglich selbst heizt.
Dagegen ist das Gleichgewicht der Liebe, diese Liebe zu sich selbst, die doch niemandem gestohlen ist, diese Liebe zum anderen, die das eigene Ich doch nicht verkürzt oder verkümmern lässt, das Geheimnis des Glücks."
Ich glaube, gerade für Menschen, die durch eine falsch verstandene sog. christliche Erziehung (zum Glück hat sich da inzwischen viel geändert) vor allem auf "Nächstenliebe" programmiert wurden, lohnt es sich, einmal daraüber nachzudenken, was Selbstliebe meint.
Jemanden lieben heißt doch, ihm wünschen, dass er glücklich ist, dass er im Innersten versöhnt und zufrieden ist, dass er sich entfalten kann - und ihn dabei unterstützen oder besser, begleiten, falls er das möchte.
Kann ich das wirklich aus vollem Herzen, ohne Hintergedanken, ohne Bedingungen, ohne mich nach einiger Zeit leer und ausgebrannt zu fühlen, wenn ich mit mir selbst unversöhnt und unzufrieden bin? Wenn ich mich selbst nicht gut kenne, mit meinen Stärken und Schwächen? Wenn ich meine eigenen Bedürfnisse nicht wahrnehme und ernstnehme? Wenn ich in mir verdränge, oder sogar gewaltsam unterdrücke, was mir unangenehm ist oder was nicht zu dem Bild passt, das andere von mir haben - das ich von mir selbst habe.
Was ich verdränge oder unterdrücke, beeinflusst oder bestimmt unbewusst mein Verhalten und mein Handeln. Oder es wird sich in meinem Körper verstecken und zu Verspannungen und Blockaden führen.
Depression, Reizbarkeit, Allergien und viele körperliche Symptome melden sich dann in ihrer eigenen Sprache zu Wort.
Die Selbstliebe ist unabdingbarer Teil des Liebesge-bots, einer Bot-schaft, die den Weg ins Leben weist.
"Schenken wirst du deinem Nächsten Liebe, wie dir selbst" - diesen Satz habe ich vor kurzem gelesen und er drückt für mich noch klarer die Botschaft des (christlichen?) Liebesgebots aus.
Sich selbst lieben, das heißt, mit sich selbst umgehen, wie eine liebevolle Mutter, ein liebevoller Vater mit ihrem Kind umgehen. Sie begleiten es beim Wachsen und Werden. Sie verwöhnen es nicht und sie vernachlässigen es nicht; sie nehmen es an, so wie es ist. Sie hegen und pflegen, was seiner Entfaltung dient; sie freuen sich an jedem Schritt, den es selbständig macht, sie lassen es seine Erfahrungen machen, sie ermutigen, trösten, verstehen; sie helfen ihm dabei, sich selbst zu erkennen mit seinen Stärken und Schwächen - das alles lässt wachsen und reifen ein Leben lang.
Ich weiß, das ist ein sehr idealistisches Bild, dem man nur schwer gerecht werden kann - aber versuchen kann man es zumindest. Und da wo es nicht gelingt, wo vielleicht sogar schlimme Verstöße gegen die Liebe passiert sind, da gibt es immer wieder die Möglichkeit der Umkehr, der Versöhnung und Vergebung - für sich selbst und für andere.
Vielleicht kann dabei das Versöhnungsgebet, das aus meiner eigenen familiären Situation heraus entstanden ist, eine Hilfe oder ein Impuls sein (Seite 22).
Noch einmal zurück zum Thema "Selbstliebe"
Jeder Mensch hat bestimmte Talente. Wenn er die entfaltet, dann fühlt er eine innere Zufriedenheit, die dann ganz automatisch auf seine Umgebung ausstrahlt. Sich selbst lieben heißt für mich deshalb vor allem, den eigenen Gaben, den eigenen Träumen nachspüren und ihnen Lebensraum geben. In ihnen steckt unsere Lebensenergie, unsere Lebensfreude.
Natürlich gibt es auch noch andere Energiequellen. Aber warum schöpfen wir nicht zuerst aus der, die uns ganz persönlich gegeben ist?
Es ist sicher nicht immer leicht, die eigenen Kreativität zu entdecken und zu entfalten. Aber es ist ein Weg, der zur Freude führt - und die führt auf ganz direktem Weg zur Liebe, der Liebe zu sich und der Mitwelt.
Du selbst (eine kleine Weisheitsgeschichte, aufgeschrieben von Anthony de Mello)
Ein Geschäftsmann wollte vom Meister wissen, was das Geheimnis eines erfolgreichen Lebens sei.
Sagte der Meister: "Mach jeden Tag einen Menschen glücklich!"
Und er fügte als nachträglichen Gedanken hinzu:
"...selbst wenn dieser Mensch du selbst bist."
Nur wenig später sagte er: "Vor allem, wenn dieser Mensch du selbst bist."