Die Mauer um das Herz
(von Hans Albert Höntges)
Irgendwann muss jeder mit der Versuchung fertig werden, eine Mauer um sein Herz zu bauen, die das Herz schützen soll vor den Verwundungen des Lebens, vor den Enttäuschungen und Bitternissen.
Irgendwann ist jeder von uns so enttäuscht: Von einer Liebe - von einer Freundschaft - von einem Vertrauen - von einem Urteil, das über ihn gesprochen ist - von den Grenzen seiner Möglichkeiten -
von seinen Misserfolgen bei den Menschen oder von seiner Arbeit - enttäuscht einfach von sich selbst, dass er sich am liebsten zurückziehen möchte. - Aber wohin? -
In sich selber, wo er seine Ruhe hat, wo er nicht enttäuscht und betrogen wird, in die schützende Dunkelheit hinter der Mauer, die er um sein Herz bauen will...?
Es ist wahr: Wenn jeder vor sich sähe, was in der Zukunft seines Lebens bereitet ist: All die Freude und allen Ärger - alles Gelingen und alles Versagen - alle Versuche, die er unternimmt - alle Misserfolge, die er erleiden wird - allen Verzicht, der ihm auferlegt wird - alles Glück und allen Verlust - all seine Hoffnungen und alle Enttäuschungen - er würde erschrocken ausrufen: "Nein, das ist zuviel, für mich ist das zuviel! So groß und stark ist mein Herz nicht. Das kann ich nicht an mich heranlassen. Ich baue mir eine Mauer um mein Herz!"
Gewiss, wer nichts riskiert, wird nicht enttäuscht. Aber unmerklich wird sein ganzes Leben zur Enttäuschung. Denn wir vermögen es nicht, eine solche Mauer um unser Herz zu bauen, die uns nur vor dem Schlimmen schützt. Wir können nur eine solche Mauer bauen, die alles von uns fernhält:
Mit dem Schmerz auch die Freude - mit den Abneigungen auch alle Zuneigungen - mit den Enttäuschungen auch alle Hoffnungen - mit den Qualen auch alle Lust!
Was ist das für ein Preis!
Ohne Kelter gibt es keinen Wein. Wir sind traurig, wenn uns das Leben in die Kelter wirft. Aber ohne Kelter vertrocknen wir wie achtlos liegengebliebene Trauben - und diese Traurigkeit ist endgültig. -
Wenn ich alles Unkraut vermeiden will, muss ich den Acker betonieren.
Aber wo wächst dann der Weizen?
Reinhold Schneider hat aus der Erfahrung seines eigenen Lebens einmal den Satz geschrieben:
"Je reicher ein Leben ist, umso größer ist seine Verwundbarkeit."
Wieviel Trost liegt in dieser Einsicht für den, der seiner Verwundbarkeit inne wird.
Nicht nur die Verwundbarkeit spüren, sondern damit auch den Reichtum des Lebens.
Reiß die Mauern ein
Reiß die Mauern ein die dein Herz umgeben
Räum den Schutt beiseite
Das Leben mit all seiner Kraft wird dann in dir sein
Es wird dich durchströmen und erfüllen
Nur deine Mauern hindern es daran
Nimm das Leben wahr wie es ist
Leg die falschen Brillen ab
Putze die Fenster deiner Seele
Bis du klar und ungetrübt erkennen kannst was ist
Das ist es und nichts anderes
Leben ist wie es ist und nicht anders
Schön und hässlich
Laut und leise
Lustvoll und leidvoll
Leicht und schwer
Es ist wie es ist und nicht anders
Nicht wie du es gerne sehen würdest
Nicht wie es in deine Vorstellungen passt
Nimm es wahr ohne es zu bewerten
Spüre wie es sich anfühlt
Leben ist wie es ist
Liebe es so wie es ist
Mit seiner Lust und seiner Last
Mit seinem Werden und seinem Vergehen
Freue dich an seiner Schönheit
Genieße seinen Reichtum
Beweine sein Leid
Leben ist wie es ist...
Und dennoch
Du machst es reicher
Durch deine Freude
Durch deine Schätze
Gib ihm zurück
Was es dir geschenkt hat
Du bereicherst dich und das Leben
"Jeder Tag ist voller kleiner Wunder.
Sie zeigen sich immer dann,
wenn wir unser Herz öffnen und bereit sind,
sie arglos zu bestaunen, ohne sie zu erklären,
ohne ihr Geheimnis zu lüften,
wenn wir uns einfach nur an ihnen freuen."
Jochen Mariss